Auszüge aus dem aktuellen Word-Dokument
Der Druck in meiner Blase steigt ins Unaushaltbare und ich muss mich zwingen schnell aufzustehen und auf die Toilette zu gehen. Kaum auf den Beinen pocht mein Kopf, schon zu lange habe ich im Bett gelegen und den Schlafzustand zu verlängern versucht. Dehydriert, mit Kopfschmerzen und voller Blase setze ich mich auf die Kloschüssel und merke: S’git Täg, do hockt me eifach immer irgendwie schräg uf’s WC. So ein Tag ist heute.
Der Urinstrahl ist kräftig, Wasserfälle nichts dagegen und unendlich lange sitze ich mit dröhnendem Kopf auf der Toilette und will vor allem Wasser trinken, den pelzigen Geschmack auf der Zunge aufweichen, etwas Kaltes die Kehle runterspülen. Ich erwäge den Abstand zwischen WC und Lavabo, aber aus Erfahrung weiss ich, dass eine Verrenkung von Oberkörper, Hals und Kopf nicht reicht und daneben pissen will ich nicht. Und schon muss ich wieder an den einen Abend in Sissach denken, als ich und mein damaliger Freund sturzbesoffen bei ihm zuhause ankamen und ich, aus Rücksicht seiner Schwester gegenüber, die im zum Bad angrenzenden Zimmer schlief, versuchte möglichst leise zu pinkeln, auf der Kloschüssel zu weit nach vorne rutschte und erst bemerkte, dass alles überlief, als ich eine nasse Wärme (oder warme Nässe? Spielt das eine Rolle?) an meinen Füssen spürte. Leise pinkeln habe ich noch nie gekonnt. Immer schämte ich mich auf den Schultoiletten, wenn ein Mädchen neben mir geräuschlos in die Kabine neben mir ging und verschwand, als sei ihre Pisse schwerelos.
Allgemein hatte und habe ich noch immer Mühe beim Pinkeln, wenn jemand in der Nähe sein könnte. Als Kind hatte ich über Monate hinweg eine schwere Blasenentzündung und meine Eltern brachten mich von Ärztin zu Arzt und landeten schliesslich mit mir im Anhang bei irgendeiner Therapeutin, die komische Sportmatten in ihrer Praxis hatte. Diese meinte, ich wolle doch einfach abends nicht ins Bett, wenn ich sieben Mal aufstand, weil ich das Gefühl hatte, pinkeln zu müssen. Was danach geschah, weiss ich nicht mehr, vielleicht verschwand die Blasenentzündung plötzlich, vielleicht gab man mir Medikamente, auf jeden Fall gingen die Schmerzen weg, nicht aber die Scham und seither gehöre ich zur Menschensorte der Schüchpisser. Falls es denn so eine Sorte Mensch überhaupt gibt. Manchmal vermisse ich den Schmerz der Blasenentzündung, der kurz vor dem Urinieren eintritt und manchmal bilde ich mir ein, ein kräftiger Pissestrahl kitzle meine Klitoris gerade richtig, um irgendwann zu einem Orgasmus zu kommen. Obwohl das anatomisch nicht wirklich aufgehen würde. Oder schon? Noch immer ist mir mein Körper ein Mysterium.
All diese Gedanken habe ich, während noch immer Pipi aus mir heraustropft und ich langsam die Geduld verliere. Ich habe Durst! Wasser muss her! Ich nehme wieder mal viel zu viel Toilettenpapier zur Hand, während die Bewegung meinem Kopf wieder einen Schmerzensstoss aussetzt. Kaum aufgestanden stehe ich eine halbe Minute gebeugt vor dem Wasserhahn und saufe wie eine verdurstete Antilope im drückenden Savannensommer. Das Samtige verlässt meine Zunge nicht und als ich mich an den Küchentisch setze und an einem harten Stück Brot von letzter Woche nage, kommen wieder die gleichen Gedanken, die sich schon den ganzen Winter lang in meinen Kopf drängen: Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Irgendetwas ist scheisse. Irgendetwas passt nicht. Oder ist es einfach Faulheit, die mir erlaubt, erst um zwei Uhr nachmittags das Bett zu verlassen und nichts spüren zu wollen, nicht Mal den Druck meiner überfüllten Blase. Das ist keine Frage, es ist eine These oder vielleicht doch ein Fakt. Oder eine dieser Fragen, die sich wie Fakten anfühlen, immer zu wiederholende, selbstzerstörende Mantras, wie die Frage nach meiner Schlaflosigkeit und Schlafsucht, meinem Allein-sein-wollen oder -nicht-wollen und dem Nicht-Allein-sein-können, wie die Frage nach meiner Hässlichkeit und Selbstverliebtheit und überhaupt, ob ich denn zu Realitätswahrnehmungen fähig bin und oder fähig sein will. Boah. Kaum aufgestanden, schon überfordert. Das ungewaschene Geschirr der letzten vier Tage hilft da auch nicht gross und auch nicht die Brotkrümel, die ich unter meinen nackten Füssen am Boden spüre.
Ich glaube, ich habe Fusspilz. Und dann google ich «Fusspilz» und sehe Bilder von Füssen, die unterschiedlicher als meine eigenen Füsse im Moment nicht sein könnten und glaube immer noch fest daran: Ich habe Fusspilz. Und dann frage ich mich, wie es tatsächlich Fussfetischist:innen geben kann und dann denke ich, don’t kink-shame und dann shame ich es aber doch wieder ein bisschen. Aber was geht mich das an, ist doch schön, wenn Menschen sich mit Fussbilderverkaufen ihr Lebensunterhalt verdienen können. Und dann bin ich doch froh, muss ich nicht jeden einzelnen Aspekt meines Lebens monetarisieren und merke dann wieder, dass ich schon extrem privilegiert, um nicht zu sagen, AM PRIVILEGIERTESTEN, bin. Aber weisse hetero Cis-Dudes gibt es halt immer noch und die sind wohl noch ein bisschen privilegierter als ich, tauschen möchte ich mit ihnen trotzdem nicht und dann frage ich mich, ob ich dann nicht doch privilegierter bin, weil ich nicht mit ihnen tauschen möchte und dann merke ich, wie dumm dieser Gedanke ist, denn das ist ja gerade eben nicht der Punkt, dass man tauschen wollen sollte, sondern dass man einfach sollte sein dürfen und können, wie man eben ist. Und jetzt habe ich drei Mal das Wörtchen «man» benutzt und finde es eigentlich scheisse, obwohl ich den etymologischen Ursprung im Wort «Mann» noch immer nicht überprüft habe.
Ich will mir einen Kaffee machen, doch dazu müsste ich jetzt zuerst die Bialetti leeren, reinigen und wieder füllen und auf den Herd setzen und Milch kaufen müsste ich auch noch und, wenn ich eh schon raus muss, warum nicht gleich ins Café um die Ecke gehen und ein Buch lesen, oder zumindest so tun, und kettenrauchend in der Sonne oder unter dem Regen sitzen und den Kaffee-Zigarette-Kombi-Durchfall verklemmen. Vor einigen Nächten habe ich Jessica Jurassicas «Ideal des Kaputten» fertiggelesen: Bei ihr klingt Amphetamin-Hangover-Gekotze geil, während ich hier versuche, cool zu sein und mir dabei fast die Hose vollkacke. Vielleicht gehöre ich einfach nicht zu der Sorte Mensch, die Kaffee und Zigaretten zum Frühstück verträgt. Falls es denn so eine Sorte Mensch überhaupt gibt. Oder vielleicht habe ich Jessica Jurassicas Buch einfach nicht verstanden.
Meine Zähne putze ich nicht, ich zieh mir nur was Ordentliches an, lüfte nicht einmal mein Zimmer, schliesse die Wohnungstür ab und vergesse es zwei Stockwerke tiefer wieder, aber egal, gehe raus auf die Strasse, auf der es verdächtig nach Regen aussieht.
***
Das Café ist innen überfüllt, draussen sitzen nur die Raucher:innen, unter ihnen einige, die immer hier zu sitzen scheinen, solche, die unendlich Espressi trinken und Gauloise oder Marlboro Rot rauchen können, ohne jemals Durchfall zu haben. Ich setze mich auf eine der roten Decken, wickle sie um meine Beine und starre vor mich hin, manchmal einem Gespräch neben mir lauschend, manchmal nur der Stille, die ganz plötzlich in meinem Kopf eingekehrt ist. Ist das creepy? Ohne Instagram-Scrollen, ein Buch, Musik aus Kopfhörern, einfach unterhaltungslos an einem Ort zu sitzen? Manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, ob unsere Gehirne so wenig Input aushalten können. Obwohl: die Strasse ist laut, ein Tram läutet beim Vorbeifahren und irgendwo schreit ein Kind.
Neben mir sitzt der Typ, der immer hier sitzt und immer ein krass dickes Buch liest und bei dessen Anblick ich mich immer frage, was der im Leben so macht, ausser hiersitzen und Kaffeetrinken und Bücherlesen. Dann denke ich an die Schwäne, die einige hundert Meter weiter am Rhein sind oder auch nicht, ich war schon lange nicht mehr am Rhein, wo sind die Schwäne vom Rhein im Winter? Und so verbringe ich eine halbe Stunde, dann eine ganze, ohne wirklich etwas zu tun, ausser von Gedanken zu Gedanken zu hüpfen.
Dann klingelt mein Telefon. «Kommst du noch ins Büro?», fragt es mir ins Ohr. «Bin schon auf dem Weg», sage ich zurück, was überhaupt nicht stimmt, denn ich sitze immer noch am selben Ort mit noch immer derselben Decke um meine Beine geschlungen wie noch eine Stunde zuvor. Aber das war mein Tritt in den Arsch und meine Freundin, die seit Stunden im Büro sitzt und seit ein paar Stunden weniger auf mich wartet, weiss das auch. Das ist unser Deal: Sie ruft an (meistens, wenn ich noch schlafe), ich bringe Schokobrötchen und dann arbeiten wir. Und das funktioniert. Also steige ich in das nächste Tram, mein Fahrrad hat schon seit Wochen keine Luft in den Reifen, was mir mit der Kälte auch ganz recht ist, und steige in Kleinhüningen wieder aus.
Unser Büro nennen wir einfach so. Wären wir kreativer, expressionistischer, würden wir es Atelier oder Studio nennen, aber weil wir nur an unseren PCs hängen und dort vielleicht manchmal ein bisschen kreativ sind, nennen wir es einfach Büro. Das, so finden wir, klingt auch produktiver und wir brauchen jedes Gramm Produktivität, das wir finden oder halt eben erfinden können. S. meinte auch mal, wir seien eine Selbsthilfegruppe, und Unrecht hat sie damit nicht. Wir sind drei etwas verlorene Anfangzwanziger:innen, die nach oder noch während dem Studium in irgendwelche «Kreativjobs» hineingerutscht sind und jetzt tagtäglich mit diesem Erwartungsdruck des Kreativ-sein-sollens umgehen müssen. Und weil wir das alleine nicht können, erfinden wir uns eine Struktur, die uns dabei helfen sollte. Wie gesagt: Selbsthilfegruppe. Und wenn jemand mal nicht auftaucht, rufen wir an oder locken mit Schokobrötchen und Kaffee, weil wir wissen, dass es umgekehrt auch so wäre, und das ist gut so.
Generell merke ich oft an diesem Punkt des Tages, dass vieles gut ist so. Und das erstaunt mich dann immer, weil ich noch die Erinnerung einer ziemlich beschissenen Nacht und eines ziemlich beschissenen Morgens und das Samtige auf meiner Zunge spüre. Dann verwerfe ich diese Erinnerungen wieder und finde, dass ich simuliere: Ich habe weder Depressionen noch Fusspilz. Nur die Kopfschmerzen bleiben, verschwinden aber erfahrungsgemäss mit dem zweiten Kaffee.
Ich stosse die Tür zum Büro auf und begrüsse S. und T. mit einem wackeligen Tanz und einem melodisch intendierten Hallo. Unser Büro liegt im Erdgeschoss und hat ein grosses Schaufenster zur Strasse hinaus, die, obwohl noch in Basel, genauso durch unsere Heimatdörfer hätte gehen können. Hier grüssen uns die Alten, wenn wir draussen rauchen, zeigen uns ihre Hunde beim Gassi-Gehen und manchmal bringen sie Lindor-Kugeln oder Raffaellos vorbei und leeren für uns den Aschenbecher. Manchmal ist es mir unangenehm und manchmal freue ich mich, wenn ich mit ihnen witzeln kann und bin stolz auf eine gelungene soziale Interaktion mit Menschen, die mich nicht in- und auswendig kennen. S. kennt mich in- und auswendig und T. ist auf gutem Wege dazu – ob dieser Weg ein guter oder einer aus Holz ist, vor dieser Ungewissheit wollte ich ihn warnen, hatte es dann aber vergessen und jetzt ist es vielleicht zu spät. Die zwei schauen auf, T. nickt nur und S. springt hoch und will mir einen Kaffee machen, den ich dann dankend annehme, nachdem ich den PC gestartet und meinen Platz freigeräumt habe. Nachdem ich das Mailprogramm geöffnet habe, habe ich keine Lust mehr und fange an zu reden, irgendwelchen Unsinn, um beschäftigt zu sein und die anderen zu unterhalten, obwohl sie gerade konzentriert zu sein scheinen. Aber irgendwie sind sie immer froh um Ablenkung. Unsere Gehirne sind wie Eintagsfliegen, die im Zickzack unter der Decke umhersurren und immer wieder vergessen, wo sie sind und was sie eigentlich wollen. Vielleicht müssten wir im Büro eine Wand freiräumen, um Affirmationssprüche zu sammeln, so wie Freundinnen unserer Mütter «live love laugh»- oder «if you want breakfast in bed, sleep in the kitchen»-Wandtattoos in den Küchen aufhängen.
Vor einem Jahr hatte ich tatsächlich an die Schlafzimmerdecke direkt über meinem Kopfkissen einen Zettel, auf dem mit Edding ganz dick «Hopp!» stand, geklebt, in der Hoffnung, ich würde ihn morgens lesen und aufstehen, statt endlos liegen zu bleiben. Doch die Decke war zu hoch und das Papier des Zettels nicht stabil genug, weswegen er in sich zusammenfiel und das «Hopp!» nicht mehr zu sehen war. Und jetzt, wo ich morgens nur den hängenden Zettel als sogenannten Denkzettel, der an das «Hopp!» erinnern sollte, sehe, nützt es auch nichts. (Was mich daran zweifeln lässt, ob es auch mit leserlichem «Hopp!» genützt hätte.)
***
Der Tag dehnt sich in die Länge, die ganze Zeit rutsche ich ungeduldig auf meinem Stuhl umher. Heute wird es irgendwie nie richtig hell, sodass ich schon bald die Stehlampe neben meinem Arbeitsplatz anschalten muss. Meine Mitarbeiterin und ich quatschen viel, wir sind beide unkonzentriert und Arbeit findet sich irgendwie nie. Obwohl die Arbeit ruft, sie ruft immer – was ist mit Flüstern passiert? Dann endlich, irgendwann verschwindet meine Mitarbeiterin ins Wochenende und ich tue noch so, als sei ich produktiv am Arbeiten. Kaum ist sie am Fenster vorbei, die Strasse entlang, schalte ich meinen Computer aus, gehe auf die Toilette, pinkle, packe meine Dinge und gehe los. Im Tram lese ich, schon lange ist es her, seit mich ein Buch so gepackt hat. So fühle ich mich wie als Kind, wenn ein neues «Fünf Freunde» Buch geschenkt und die ganze Zeit gelesen, gelesen, gelesen wird. Das Tram ist noch nicht voll, kurz vor Stosszeit und am Bahnhof stehe ich viel zu lange am Gleis und warte auf meine Freund:innen, dann sitze ich viel zu lange im sich füllenden Zug, reserviere das Viererabteil und warte dort auf meine Freund:innen. L. kommt und bringt ein Wegbier, dann kommt W. und bring Wegempanadas, dann kommt N. und bringt News: H. und C. würden doch nicht zusammenziehen, C. habe sechs Wochen vor dem Umzug einen Rückzieher gemacht. Wir quatschen, lachen, trinken unser Bier. «Scheisse, wir sind im Ruheabteil», lacht W. und eine ältere Frau dreht sich mit bösen Blick zu uns um.
In Bern wartet A. auf uns und auf dem Weg zum Bierhübeli zählen wir uns gegenseitig unsere Red-Flags auf. «Emotionen werden gedacht, ja nicht gefühlt.», sage ich zu W. und W. lacht: «Wann haben wir angefangen uns so gut zu kennen?»
«Red-Flag: Du stehst über allem und lässt niemanden an dich ran.», sage ich.
«Das stimmt nicht! Warum meinst du das?»
«Keine Ahnung, nur eine Idee. Mir fehlt der Erfahrungswert: Wir haben uns noch nie gedatet.»
Die Sonne geht hinter den Wolken unter, aber wir sehen sie nicht, weil die Wolken zu krass sind. So gehen wir an der Reitschule vorbei, den Stutz hinauf. «Eine andere Red-Flag ist, dass du Probleme zuerst mit dir selbst löst und dann die andere Person nur noch darüber informierst.», meint L. Wir lachen, wir sind glücklich, wir haben uns gern und unsere Makel auch.
Vor dem Einlass zum Konzert drehen wir uns Zigaretten, rauchen und lachen weiter. So kann es sein, so könnte es immer sein – vielleicht nicht immer, aber so könnte es öfter sein. Im Konzertsaal treffen wir auf Menschen, die wir kennen, was mich und A. und L. erstaunt, denn wir kennen nur wenige Menschen aus Bern, während W. und N. hier aufgewachsen sind und überall Umarmungen verteilen und Bekannten zuzwinkern. Der Saal füllt sich, wir sind zuvorderst und dann fängt es an. Wir verlieben uns in die Vorband: Ein nicht sehr schöner, glatzköpfiger Typ, der uns Geschichten erzählt und Powerpointpräsentationen zeigt und tanzt und lacht und er steckt uns mit seiner Freude an. W. dreht sich zu mir: «Ist das das Zentrum des Venn-Diagramms von dem, was wir zwei hot finden?» Ja, ist es. Wir finden Leidenschaft hot und Spass finden wir hot und eine ganz spezielle Form von Kaputtsein auf die richtige Art finden wir auch hot. Ich finde W. hot, aber W. weiss das nicht.
Das Konzert ist wild, die Show ist bunt und verstörend und sexy zugleich und am Ende bin ich klatschnass vom Champagner, der auf uns gespritzt wurde, vom Bier, das jemand neben mir ausgeleert hat, von Kunstblut, das die Performer:innen abgeschüttelt haben, von meinem Schweiss und vom Schweiss fremder Menschen. Und ich fühle mich grossartig. Ich fühle mich mutig.
Irgendwie haben wir uns alle verloren und finden uns am Ausgang wieder, vor der Bushaltestelle, trinken Bier und rauchen selbstgedrehte Zigaretten. Dann kommt der Bus und diejenigen von uns, die zurück nach Basel müssen, steigen ein, steigen in Olten um und steigen in Basel wieder aus, um auf den Fahrrädern über Brücken nach Hause zu fliegen.
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Z. hat sich von K. getrennt. Per Telefon nach sieben Jahren. Er schreibt mir, fragt, ob ich Zeit für ein Bier habe, ein bisschen lachen, ein bisschen Ablenkung. Wir treffen uns mit S. zu dritt bei der Kaserne und witzeln und sticheln und erzählen uns Geschichten. Als S. geht, sind K. und ich still.
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Schon wieder habe ich mir diese Dating-App heruntergeladen, obwohl ich nichts auf der Welt mehr hasse als diese Dating-App. Nein, das stimmt nicht: Ich hasse Hass und Männer, die mir nicht zuhören, und klebrige Teigreste in der Spüle und wenn meine Freund:innen nicht zu sich selber schauen. Das hasse ich und das macht mich wütend. Und wütend macht mich eben auch, dass ich mir immer wieder diese Scheiss-Dating-App herunterlade, unendlich lange swipe und swipe und finde, dass alle gleich aussehen, gleich unsympathisch aussehen und manchmal finde ich jemanden mit einem lustigen Spruch in der Bio und dann matchen wir und dann schreiben wir und dann werde ich geghostet. Oder wir treffen uns, lernen uns kennen, bis hin zu den Stellen, die man bei Tag nicht sieht. Und dann reden wir darüber, wie wichtig uns gute Kommunikation ist und dann küssen wir uns einmal und zweimal, bis wir nicht mehr Küsse zählen, sondern Stunden bis zum Abschied. Und dann… werde ich geghostet.
Und dann fangen wieder die Selbstzweifel an und dann muss ich mir eine waschen, denn ICH BIN GUT ALLEINE. Ich war schon immer gut alleine, auch als ich nicht alleine war. Und dann nerve ich mich über diesen Zweisamkeitszwang. Und dann über meine doofe Definition von Alleine-Sein und über alle doofen Liebeslieder und dann höre ich schlechten Deutschrap und dann ist es besser. Bis ich mich über die Texte vom schlechten Deutschrap aufrege und darüber, dass es wirklich noch fast niemand geschafft hat, geile Rap-Lyrics und Musik zu machen. Und dann frage ich mich, ob beim Deutschrap vielleicht genau der problematische Inhalt, das Tussen- und Deine-Mutter-Ficken und der Rassismus und die Wut den Deutschrap als Deutschrap ausmachen, bis ich merke, dass ich jetzt aufpassen muss, bevor ich nur noch dummes Zeugs denke, das ich nicht mehr zurücknehmen kann. Weil auch mir selber gegenüber pflege ich einen Dialog der political correctness: Nein, ich darf nicht alles sagen. Ich darf auch nicht alles denken. Oder wenn, dann muss ich es zurücknehmen können oder von meiner Festplatte löschen, wie die blöde Dating-App nach jeder Enttäuschung oder zu viel Langeweile von meinem Smartphone wieder weggelöscht wird, um dann einige Wochen später, meist nachts, meist angetrunken, wieder heruntergeladen zu werden. Vielleicht ist die einzige Haltung vor dem eigenen Problematisch-Sein das Sich-Übers-Eigene-Problematisch-Sein-Bewusstsein. Oder halt nicht das Tussen- und Deine-Mutter-Ficken, sondern das Ficken der Bullen, des Staats, des Systems mit Stickervandalismus.
Vor einiger Zeit habe ich einen Instagram-Account entdeckt, auf dem jemand in Berlin DJ-Bobo-Sticker produziert und DJ Bobos Kopf dabei immer irgendwo draufphotoshoppt. Die habe ich mir dann bestellt und jetzt kleben in meiner Wohnung und am Briefkasten und sonst an Orten um mich herum Bilder eines Polizisten mit nackten Oberkörper und DJ Bobos Kopf drauf. Bobo-Jugend, so heisst der Account. Und unter dem Sticker steht in Glitzerschrift «Officer Sexy» geschrieben. Ich liebe das Internet. Und ich liebe es, dass man sich einfach so Dinge nach Hause bestellen kann und an die Wand kleben.
Es ist Nacht und eigentlich hätte ich schon vor Stunden schlafen müssen, doch bin irgendwie auf Instagram steckengeblieben. Ich liebe das Internet und diese Liebe raubt mir Schlaf. Und vermutlich auch einige Gehirnzellen. Aber was soll’s. Wie meine Grosstante in Italien sagte, als meine Grossmutter sie zusammenschiss, weil sie schon wieder draussen rauchte: «Am Ende musst du wissen, woran du stirbst.» Dann sterbe ich halt an Internet-Hirnzellen-Raub. Oder wie meine Grosstante an Lungenkrebs irgendwann. Oder vielleicht sterbe ich auch einfach nicht, aber das dünkt mir eher unwahrscheinlich.
Dann sehe ich, dass ich auf dieser Dating-App einen neuen Match habe. Mir fällt auf, dass ein Match ja auch ein Fussballspiel sein könnte und irgendwie leuchtet mir diese Konnotation ein: Daten auf Apps ist ein Spiel, zwei Menschen werfen sich Nachrichten hin und her wie ein Ball und manchmal schiesst man ein Tor oder auch ganz einfach daneben. Ich frage mich, was mit all den romantischen Hollywood-Vorstellungen passiert ist, gab es die Mal in echt? Haben sich Menschen tatsächlich in einer Buchhandlung kennengelernt, als einer ein Buch vom Regal nahm und sich Blicke über die entstandene Lücke trafen und tief ins Herz gingen? Und dann stellte sich vielleicht heraus, dass der Typ ein totaler Creep ist und man merkt es erst beim zweiten Glas Wein und dann muss man sich irgendwie aus dem Staub machen, verschwinden. Da ist ghosten viel einfacher, so ohne physisches Gegenüber. Ich schwelge manchmal in solchen pseudo-romantischen Vorstellungen und ertappe mich dabei, wie ich sie mir tatsächlich herbeiwünsche. Dann muss ich mir wieder sagen: Ich habe keine Gefühle und ich bin gut alleine. Vielleicht verschwinde ich, wenn alles zu viel wird und die Einsamkeit über mich hereinbricht, auf eine Ölbohrinsel und arbeite dort in der Logistik mit einem Stapler-Fahrzeug-Dings, um mich herum nichts als Meermassen und schnapstrinkende Ölbohrhandwerker. Oder so. Was labere ich eigentlich? Vielleicht ist das der Grund, warum ich Single bin. Das und dass ich mir meine Einsamkeit genauso gut romantisieren kann wie irgendein kitschiges Treffen im Café, einer Buchhandlung oder im Coop.
Ich rufe das gematchte Profil auf und schreibe ganz salopp, ganz unüberlegt und unkreativ: «Wie war dein Wochenende so?»
Pontus ist 28 und in der Antifa und Spinningtrainer und aus Berlin und tätowiert und attraktiv. Es geht nicht lange und er antwortet. Ich lege mein Buch zur Seite, es fehlt noch ein halbes Kapitel, dann habe ich es fertiggelesen. Es passiert nicht oft, dass ich so von Fantasy-Romanen angetan bin und kurz bin ich mir nicht sicher, ob «American Gods» auch wirklich Fantasy ist, ich meine, im Vorwort etwas über eine unmögliche Kategorisierung dieses Buches gelesen zu haben, aber das Vorwort ist schon sechshundert Seiten her, genau daran erinnern kann ich mich nicht. Und auf die selbe Art und Weise bin ich irgendwie von diesem Pontus angetan, geflasht, der zwar Spinningtrainer ist (nicht sexy) (zumindest nicht für mich, sportliche Menschen machen mir Angst) und gleichzeitig wirklich süss und zugänglich und ein bisschen auf die richtige Art und Weise kaputt wirkt und somit sehr hot. Pontus schreibt, dass sein Wochenende gut war, er besuche gerade Freund:innen in Basel, sei extra dafür hierhergekommen und bleibe noch bis Dienstag. Fuck, denke ich, es ist Sonntagabend, morgen würde ich arbeiten und dann ist eben schon Dienstag und Pontus für den siebzigsten Geburtstag seines Vaters in einem Kloster irgendwo bei Neuchâtel. Schon habe ich innerlich mit ihm abgeschlossen, Gefühle gedacht, Probleme alleine für mich gelöst und stehe nun haushoch über all dem drüber. Meine Red-Flags flattern im Nachtwind unruhig hin und her.
Dann fragt er: «Was machst du heut Abend noch?»
Frech, denke ich mir. Worauf will er hinaus? Ich erzähle ihm vom Buch und meiner Bettflasche und frage ihn zurück, was er denn gerade so mache.
«Lieg im Bett, nachdem ich mit meinen Friends gechillt habe. Und jetzt schreib ich mit dir.»
Ich schau die Nachricht ein bisschen zu lange an und finde ihn noch immer frech, aber frech gefällt mir, ich bin gerne frech, frech ist besser als ruhig und still und Ratespiel, Quizshow («Was könnte ich jetzt denken? Was könnte ich jetzt wollen? Ist es Antwort a, b oder die geheimen Antwort c?»). Ich bin es müde, Gefühle, Bedürfnisse, Regungen anderer erraten zu müssen. Das musste ich schon genug, die Art und Weise, wie meine Mutter die Haustür öffnete, oder wie mein Vater das Geschirr in die Maschine einräumte, das alles hat mich zur Gefühlsdetektivin trainiert und darin bin ich sau gut. Aber darauf habe ich keine Lust mehr. Sei frech, sei forsch, sag mir, was du brauchst. Und dann schauen wir, ob es mir auch in die Karten passt.
«Musst du morgen arbeiten? Ich hätte am Vormittag noch Zeit für ein Date.»
Ich schmunzle. Das würde mir in die Karten passen. Wäre da nicht die Arbeit. «Wenn du auf dem Weg von Neuchâtel wieder vorbeischaust…», tippe ich als Antwort zurück.
Er antwortet schnell: «Mist, dann wird das mit dem Knutschen nichts. Muss leider dann direkt heim, die Arbeit ruft.»
Echt doof, dass Arbeit immer rufen muss. Was ist mit Flüstern passiert? Würde Arbeit flüstern, man könnte besser weghören. Und sich zum Knutschen treffen.
Ich kuschle mich in die Bettdecke ein. Die Bettflasche wärmt meinen Bauch und ich merke, wie müde ich bin. Das dicke Buch liegt neben mir, dahinter streckt sich mein Bett bis zur Wand. Ich gähne und horche auf, als ich höre, wie sich der Schlüssel in der Wohnungstür dreht und A. Schuhe und Jacke auszieht. Dann ist es wieder still, nur ab und zu höre ich ein Auto draussen vorbeifahren. Mein Kopf ist wattig, wolkig, schwerelos. Und irgendwie finde ich es peinlich, wie ich mich gerade fühle, alles nur, weil Pontus, 28, Antifaschist und Spinningtrainer, mit mir knutschen möchte. Baut mein Selbstwert wirklich nur auf solchen Dingen auf? So en Chabis, finde ich. Mein Selbstwert baut primär auf anderen Dingen auf, da habe ich viel Energie reingesteckt, mich umgeschult und umprogrammiert und es ist voll okay, dass ich mich geschmeichelt fühle, wenn ein heisser Typ mit mir rummachen möchte. «Ich finde dich wirklich sehr sympathisch und hot.», schreibt Pontus. Und ja, ich bin auch wirklich sehr sympathisch und hot. Und ich finde, er ist es auch und dann schreibe ich ihm das und embrace, dass ich ein Wesen mit sexuellen und romantischen Bedürfnissen bin und dass ich mich dafür nicht schämen muss!
Dann schreibt Pontus: «Ich bin ziemlich sexpositiv, ich hoffe, das ist dir nicht zu direkt.» Und ich denke mir, dass ich mir das schon gedacht habe und finde es für meine bürgerlich verklemmten Verhältnisse schon sehr direkt, aber das finde ich gerade gut so. Und weil ich ein Clown bin, schreibe ich zurück, dass ich sehr knutschpositiv bin und vielleicht könne man sich ja auf halbem Wege treffen. Ich bin frech und auch das finde ich gerade gut so.
Dann schickt Pontus eine Sprachnachricht und in mein dunkles Zimmer unter die von der Bettflasche aufgewärmte Bettdecke schleicht sich seine Flüsterstimme zu mir. «Wenn du sehr knutschpositiv bist, und das bin ich auf jeden Fall auch, und ich sehr sexpositiv bin, was ist dann die Mitte? Rummachenpositiv? Da sollten wir uns direkt heute Abend noch zum Rummachen treffen, würde ich sagen.» Und ich lausche seiner Stimme, die sich um mich legt und mich… ja, verführt und finde das eine gute Idee.
«Was sagst du zu einem Mitternachtsspaziergang am Rhein?»
Mutig von mir, denke ich. Mein Kopf is spinning, wie Pontus auf seinem Fahrrad im Fitnessstudio beim Spinning-Training. Und dann kommt lange Zeit keine Antwort zurück. So lange, dass ich doch fast schon einschlafe. Und mir Vorwürfe mache, dass das jetzt doch zu forsch war, zu mutig, zu frech. Und dass ich doch einfach alles lassen soll. Und als ich mich selbst wieder korrigiert habe und finde, es ist okay, wenn nicht jedes Gegenüber für einen Mitternachtsspaziergang am Rhein zu begeistern ist, kommt wieder eine Sprachnachricht: Er müsse absagen, als Gast in der Wohnung seiner Friends fühle er sich nicht wohl genug, um einfach so abends noch ausgehen zu können. Das kann ich verstehen. «Ein schönes verlockendes Angebot, aber mit einem Grinsen und ein bisschen Wehmut lehne ich es doch ab. Schön, dass du es vorgeschlagen hast.» Und das finde ich dann doch wieder sehr cute. «Und ich find’s cool, dass du auf meine eher als Scherz gemeinte Einladung diese Idee noch hattest.» Und das finde ich dann doch irgendwie ein bisschen merkwürdig, weil ich seine Einladung nicht wirklich als Scherz aufgenommen habe. Und dann finde ich ihn wieder sehr cute, als er mir durch mein Smartphone, durch diese doofe Dating-App hindurch langsam und hörbar lächelnd zuflüstert: «Und danke dir für den schönen kleinen netten Flirt.»
Vorwort zu „Kopfschubladen – sind Menschen mit Vorurteilen dumm?»
(Verlag vatter & vatter, 2023)
Vorurteile wohnen in mir, wie die Motten in meinem Küchenschrank: Wenn ich glaube, sie sind weg, flattert doch noch eine hinter der Pasta aus dem Schrank hervor. Gewaltvoll versuche ich, sie mit meinen Sohlen zu zerdrücken und schaffe es selten. Wenn ich aber meine, sie vernichtet zu haben, finde ich keine klebrigen Motteninnereien an der Finkensohle. Dann hat sie sich wohl hinter dem Ofen verkrochen. Dort lauern sie, die Motten, meine Vorurteile, und warten. Ich weiss nicht, wie ich sie loswerden kann, vieles habe ich schon probiert: klebrige Sticker in die Pflanzen gesteckt und Kugeln ausgelegt.
Gleispflanzen – Anthologie 2
2022, WORTSTELLWERK Basel
Der Wecker klingelte, sie drückte auf Schlummern. Mühsam war es, sie stand auf. Nachmittag. Sie ging zur Küche und versorgte die Einkäufe: Hafermilch, Gurke, Peperoni, Äpfel, Bananen, Bananen, Bananen, Bananen, Schokoladenwürfel, scheisse, sie hatte die Oliven vergessen, Feta.
Sie googelte nach dem Rezept und backte ein Bananenbrot. Dann kochte sie Wasser auf für Couscous. Sie hatte vorausgedacht, denn morgen würde sie für beides keine Zeit haben und Bananenbrot würde Freude machen und Couscous satt. Sie hatte sich vorher noch die Pasta aufgewärmt, die die Mitbewohnerin übriggelassen hatte, und sie hatte sie gegessen und sie hatte gut geschmeckt.
Sie machte den Abwasch. Putzte die Zähne. Zog sich ordentlich an: Wollhosen, Wollpulli, Wollsocken (selbstgestrickt). Sie «schminkte» sich, d.h. sie drückte zwei Pickel aus und schmierte braune Farbe auf ihre Lider. Sie hatte noch viele Mails geschrieben, mit der Chefin telefoniert, eingeloggt, ausgeloggt, wieder eingeloggt und deaktivierte nun endlich den Handy-Hotspot: sie musste los.
Sie nahm den Rucksack, zog die Schuhe an, schloss die Wohnung ab.
Zweiter,
erster,
Erdgeschoss, Hinterausgang. Fahrradschloss, Fahrrad, Strasse, waagrecht über die Tramschienen!, treten, treten, Sonne, Wind, schön, scheiss Auto, klingeln, weiter, Brücke.
Und dann streckt sich der Rhein rechts und linkts von ihr in die Ferne, zum Ursprung, zum Meer, wie zwei riesige Flügel und sie auf der Brücke wie auf dem Rücken eines Vogels.
Dann Autos, Verkehr, Baustelle, Ampel, rechts abbiegen, bremsen, Tram, weiter, links, hinaus, abbiegen, in den Keller, Fahrrad stoppt, Fahrradschloss, Fahrradtschau.
Schwitzend die Unterführung durch, bis zu Gleis 4.
Ich warte auf dem Gleis.
Antwort: Komme.
Sie sieht ihn die Treppe runterlaufen, er winkt, lacht, sie umarmen sich: Komm, wir gehen ins Zugrestaurant. Sie setzen sich, fühlen sich wichtig an dem gedeckten Tisch. Eine Cola, ein Rivella rot. Danke. Der Mann, der ihnen die Getränke bringt, ist witzig. Er sagt: Cola zero oder normal?
Sie: Gerne normal.
Er: Und Rivella hell- oder dunkelrot?
Sie lachen. Zum Wohl. Danke.
Sie sind zu zweit am Tisch. Der Zug fährt. Gespräche über:
Wie es geht
Was getan wurde
Was getan werden könnte
Musik
Sprachnachricht an Line
Tatendrang
Wie es werden könnte
Wo müssen wir umsteigen?
In Bern finden sie das Gleis, aber nicht den Zug. Die Schaffnerin sagt ihnen, Sektor A bis C, hier geht es nach Domodossola. Dorthin wollen sie nicht. Dann finden sie den Zug, steigen ein und fahren los: aus dem Bahnhof, aus der Stadt, bis es um sie nichts als Grünfläche hat. Und Berge in der Ferne.
Um achtzehnuhrnullfünf betreten sie den Perron in Langnau i.E.
i.E.: ihres Erachtens, in Ehren, in Errichtung, im Exil …
Da wartet Mägge, er sagt: im Emmental.
Ihnen werden Marvin und Olivia vorgestellt: Marvin ist alt und stinkt, Olivia ist jung, sie schmeckt. Sie gehen los, Valerio wird nachkommen, er ist zu spät, kommt direkt aus Hamburg, hat er geschrieben. Es ist warm und ihre Füsse schwitzen in den Wollsocken.
Dinge blühen. Als sie durch kleiner Häuser mit kleinen Vorgärten gehen. Vor einem dieser Häuser bleibt Mägge stehen: Hier wohnt Martina, sie hat gekocht.
Schön habt ihr’s hier, sagt sie zu Martina. Und Ruedi, Ursi, Otti, Giora. Sie setzen sich an den Tisch, Martina hat auch Couscous gekocht. Es ist eine merkwürdige Situation. Valerio kommt, auch er setzt sich und isst. Sie fühlt sich unwohl und kneift sich jetzt fest in den Arm.
Bier?
Wein?
Ja, nein. Ein Glas vielleicht. Danke.
Sie essen und führen verkrampfte Gespräche.
Dann sagt Mägge: Wir müssen los.
Rucksack, Abräumen, WC, Tabak, merci nomol und dann wieder draussen. Uris sagt, sie sei gespannt, sie müsse aber mit Giora im Auto mit, sie könne so schlecht laufen.
Mägge sagt: Da vorne ist das Steiner-Schulhaus!
Vor dem Migros in Langnau i.E. stehen Securitas.
Vor dem Steinerschulhaus in Langnau i.E. kiffen Jugendliche.
Vor dem Platz des Steinerschulhauses in Langnau i.E. spielen die Jugendlichen Basketball.
Vor der Bank auf dem Platz des Steinerschulhauses in Langnau i.E. steht – ohne Witz – ein Ghettoblaster.
Unter der Veranda des Steinerschulhauses in Langnau i.E. knutschen zwei miteinander.
Vor der Treppe zum Theaterkeller unter dem Steinerschulhaus in Langnau i.E. sagt Mägge: Voilà.
„Es gibt nichts Langweiligeres auf dieser Erde als die Lektüre einer italienischen Reisebeschreibung, ausser etwas, das Schreiben derselben.“
Johann Wolfgang von Goethe (ofc), Italienische Reise
1
Lieber Serge
Ich schreibe dir von einer Figur aus einem Kinder-Überraschungsei, die auf einen Küchentisch gestellt wurde und dessen öliges Plastik in der Wintersonne glänzt. Was genau diese Figur darstellen soll, weiss ich nicht, vermutlich entstammt sie einer Trickfilmanimation aus Nickelodeon. Früher hätte sie das bestimmt, aber was für Medien Kinder heute konsumieren, keine Ahnung. Das Kinderüberraschungsei wurde nur dieser Figur willen gekauft, geöffnet, gegessen und die Enttäuschung war gross, befand sich nun gerade eben diese und nicht das Auto mit Augen und Gesicht im gelben Dotter des Kinderüberraschungseis. Die Figur, von der ich schreibe, wird noch einige Tage so auf dem Küchentisch stehen, dann in eine Ecke gestellt, vielleicht in die Schublade gesteckt und bei der nächsten impulsiven Räumungsaktion in den Müll geworfen. Dasselbe wäre übrigens auch dem gewünschten Auto mit Augen und Gesicht geschehen. Ich schreibe dir also über irgendeinen nutzlosen Gegenstand, den ich mir als Erwachsene gekauft und von dem ich mich dann mit einem Gefühl nie gesättigter Erwartung erleichterte. Ein Glück schreibe ich über eine Plastik-Figur aus einem Kinderüberraschungsei und nicht über dich.
Wie geht es dir eigentlich? Was macht Milla? Der Garten?
Weisst du noch, das Gartenfest in unserem letzten Sommer? Als es dann plötzlich anfing zu blitzen und donnern und regnen und wir alle wild gesungen und getanzt haben? Da habe ich dann schon gedacht, dass ich vielleicht doch ein bisschen in dich verliebt sein könnte. Dann hast du wieder von deinem Motorrad erzählt und ich verwarf den Gedanken – dafür bin ich dir dankbar. Stell dir vor, ich wäre schwach geworden. Dann hätte sich das Ganze wieder von vorne abgespielt, wie beim Plattenspieler deiner Eltern der automatisch wieder an den Anfang der Platte ansetzte, sobald diese zu Ende gespielt war, und wir immer und immer und immer wieder Heintjes «Mama» hörten und uns am liebsten die Ohren abgerissen hätten. Da waren wir noch zu klein um an den Plattenspieler im Gestell zu kommen. Jetzt bist du deutlich grösser, obwohl dir deine schlechte Haltung einige Zentimeter abverlangt, und vermutlich Ursache deiner Rückenschmerzen ist und nicht, wie du immer behauptest, das Jäten. Dabei bist du doch schon ein wenig zu jung für einen Garten, findest du nicht?
Ich weiss, du nennst es «Gemeinschaftsgarten», aber ist er das tatsächlich, wenn du der Einzige bist, der sich darum kümmert? Da ist so auf dem Papier oder als Luftschloss eine Kommune schon eine schöne Idee, aber ich hatte dir doch gleich gesagt, dass das mit Realität wenig zu tun hat. Du bist ein vollkommener Idealist, weisst du das? Auch wenn du dich selbst niemals so bezeichnen würdest, sondern dir lieber die Allüren des Revoluzzen zuschreibst. Klingt auch sexier. Ist aber mega mühsam – so als konstruktives Aussen-Feedback.
Sowieso, ich weiss, ich habe dir in deinen Entscheidungen nichts mehr einzureden, hätte mir wohl dieses Recht nie zusprechen sollen. Aber meine Meinung lege ich dir, wie immer, kund. Die schätzt du doch. Wir sind einander so vertraut gewesen, für so lange Zeit, du und ich, wir gehörten zusammen, wussten, was der andere jeweils dachte, fühlten zusammen. Manchmal überkommt mich heute noch dieses Bedürfnis, wenn ich irgendetwas sehe, rieche, höre; ein Motorrad, das einem deiner Motorräder ähnelt, Rührei, so wie du es zubereitet hast und einmal beim Versuch, das Ei elegant am Herd aufzuschlagen, alles über den Backofen lief und wie ich mich da über dich und dein blödes Mann-am-Herd-Gehabe ärgerte, das Lied, zu dem wir unsere ersten Zigaretten rauchten. Dann denke ich manchmal an dich, Serge. Ich denke sehr oft an dich. Und dann möchte ich dir davon erzählen oder dich auch nur neben mir wissen, auf dem Sofa, lesend, schweigend, aber da.
So viel ist seither geschehen. Manchmal will ich meinen ganzen Kopf und Körper in deinen Kopf, deinen Männerkörper implantieren, transfundieren, chirurgisch entfernen und in deinen legen. Dann müsste ich nichts erklären, keine Worte zu finden versuchen, um das zu sagen, was sich nicht sagen lässt.
Lange Zeit habe ich mich über unsere Verfremdung hinwegzutrösten versucht, indem ich mir einredete, dass wir nun beide andere Menschen sind, dass Früher Früher war und dass alles zu Ende geht. Auch wir. Dass, würden wir uns jetzt treffen, wir uns nichts zu sagen hätten. Das ist auch so, davon bin ich überzeugt. Trotzdem. Es gibt Dinge, die ungesagt zwischen uns stehen. Auch jetzt noch. Vielleicht stehen sie auch nur ungesagt zwischen mir und der Vergangenheit, wer weiss, da will ich nicht gross rumpsychologisieren. Ich habe dir noch viel zu sagen. Und das mache ich jetzt, spreche von dir in der Gegenwart, als sässest du mir am Küchentisch mitten in der Nacht mit einer dampfenden Tasse Tee gegenüber, so wie wir es oft taten. Ich erzähle und sage dir die Dinge, wie ich sie immer schon hätte sagen sollen, auch damals, als mich ein Kloss im Hals, meine Angst unverstanden zu bleiben und dich zu verlieren daran hinderten.
Weisst du noch, Marc und die anderen? Wie wir lachten und ich nachts dann neben dir weinte? Hast du das gemerkt? Wie der Baum vom Zimmer aus gesehen so gross und grün war und wir den Moment am Rhein mit der Musik und den tanzenden Menschen und unseren Umarmungen niemals vergessen wollten. Weisst du noch? Erinnerst du dich?
Es ist mit dir irgendwie wie mit den Figuren in den Kinderüberraschungseiern: Die Vorstellungen dessen, was du sein könntest, sind immer besser, als wie du dann wirklich bist. No offense. Und dann stehst du ewig lange in der Küche rum, bis du jemand anderem in die Hände fällst.
2
Als ich acht Jahre alt war, verliessen meine Eltern mit mir und meiner Schwester das Dreihundertseelenkaff im Aargau, in dem mein Vater, ich, meine Schwester und alle weiteren Generationen väterlicherseits bis zurück ins gefühlte Mittelalter hineingeboren wurden, und in das meine Mutter, kurz vor der vermeintlichen Liebesheirat mit meinem Vater, zog, wofür sie ihre Heimat, Familie und Freund:innen zurückliess.
Wir zogen also aus dem Aargau (obwohl, zählt das Fricktal zum Aargau? Wohl nur pro forma) und bewohnten ein ehemaliges Tankstellenhaus an der Hauptstrasse in einem Dorf im Baselbiet. Nicht viel war anders als zuvor im Fricktal, der einzige Unterschied, dass wir beim Überqueren der Hauptstrasse aufpassen mussten und ich lernte mit dem Geräusch von Lastwagen, die nachts durch die enge Strasse Richtung Autobahn fuhren, einzuschlafen.
Im Sommer nach dem Umzug, als ich noch nicht zur Schule ging und keine anderen Kinder aus dem Dorf kannte (meine Schwester ist ja viel jünger als ich), begegnete ich dir. Ich hatte damals aus Langeweile und Einsamkeit angefangen, mit meinem neuen blauen Fahrrad, das ich von meinem Götti zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, durch das Dorf zu radeln und meine neue Umgebung zu erkunden. Ich weiss noch, der Sommer war heiss und trocken und überall roch es nach Staub und Scheisse von den umliegenden Feldern und Bauernhöfen.
Ich fuhr also alleine durch das Dorf, manchmal schneller, manchmal langsamer, je nach dem in welche Fantasiewelten mich mein Kinderhirn erdachte (musste ich vor Hyänen fliehen? mit dem Fahrrad durch hellhörige Höhlen schleichen? Kinder sind in ihrer Kreativität ja oft einfältiger, als anzunehmen wäre.). Besonders mochte ich es, die Gartenzwerge in den bieder zurechtgestutzten Vorgärten zu zählen, die Froschsammlung vor einem Haus in der Birkenstrasse oder die lila Kuh auf dem Balkon bei der Kreuzung zum Dorfschulhaus. Vernahm ich die Laute spielender Kinder auf einer ruhigen Quartierstrasse, so verlangsamte ich das Tempo, die Frequenz meiner Pedaltritte, schaltete gleich mehrere Gänge runter, machte vielleicht einen Umweg, um mich für das zufällige aufeinandertreffen zu wappnen. Es kam vor, dass mich der Mut verliess und ich kehrt machte, durch andere Quartierstrassen und Gartenwege den schnellsten Weg nach Hause fand, um dort in mein Zimmer zu gehen und mich abermals alleine in ein Spiel zu vertiefen, meine Feigheit ausblendend und mir einredend, dass jene Kinder wohl sowieso scheisse gewesen wären. Schon damals hatte ich die Angewohnheit oder den Instinkt, allen möglichen Reaktionen vorbeugend mir selbst Steine in den Weg zu legen. Schaffte ich es aber doch an den spielenden Kindern vorbei, wagte ich es, mich ihnen zu zeigen, als Gleichgesinnte, als eine von ihnen, die auch Fussbälle kicken, Trottinett fahren oder sonstwie vergnügt umherspringen konnte, beschleunigte ich, mein Herz schlug gegen meine Schädeldecke und ich liess mein Adrenalin frei, indem ich schneller als je zuvor die Strasse hinunterfuhr, hart bremsend bei der Kreuzung zur Hauptstrasse anhielt und dann nach Hause ging, leichtköpfig und noch immer berauscht von meinem wagemutigen Abenteuer.
Ja, Serge, ich war ein merkwürdiges Kind, das ist dir sicher auch damals nicht entgangen. Oder vielleicht doch. Merkwürdig warst ja auch du.
Ich hatte mich sosehr daran gewöhnt, nicht von Gleichaltrigen umgeben zu sein, dass sie mit vorkamen wie fremde Wesen, deren Vertrauen ich durch wohldosierte Konfrontationstherapie, oder wie auch immer das heisst, zuerst gewinnen musste. Dabei, und da stimmst du mir zu, oder?, war es sicher anders herum.
Auf einer meiner einsamen Expeditionen in meinem ersten Baselbieter Sommer, als Neuzugezogene, mit Eltern, die immerzu arbeiten gingen, selten Zuhause waren und keine Freund:innen hatten und sich auch im Dorf nicht darum bemühten, Bekanntschaften zu schliessen – unter diesen Umständen also lernten wir uns kennen.
Die Sommerferien neigten sich bereits einem Ende zu und eine meiner grössten Ängste war es, in die Schule zu kommen und niemanden zu kennen und dann für den Rest meines Lebens oder zumindest für den Rest meiner Schulzeit alleine zu sein. Schon damals neigte ich zum Dramatischen. Ich war bereit, alles zu geben, damit es nicht so kommen würde. Und als ich auf meinem neuen blauen Fahrrad an einem Jungen vorbeifuhr, der auf dem Trottoir an einem auf Sattel und Lenkrad gestellten Velo hantierte, sag ich die eine Möglichkeit, mir mittels vorgespielter Hilfsbereitschaft zu einem Freund zu verhelfen. Ich hielt also neben diesem schwarzhaarigen, etwas molligen Jungen an, ich glaube, ich räusperte mich, und fragte, ob ich helfen könne, was denn genau kaputt sei an diesem Fahrrad (als ob ich eine Ahnung davon gehabt hätte).
Du schautest mich an, war es dir peinlich? Ich weiss, ich wollte, kaum hattest du dich mit diesem Blick zu mir gewandt, im Erdboden versinken, und als du dann meintest, nein, es sei schon gut, du würdest nur spielen, meinte ich im Nachhinein so etwas wie Mitleid in deiner Stimme gehört zu haben.
Vermutlich war es dir auch einfach unangenehm beim Spiel mit einem ganz und gar nicht kaputten Fahrrad erwischt zu werden und dann eine echte, ungespielte Reaktion ausgelöst zu haben, als hätte ich dich ertappt. Wer weiss. Du sagst ja, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Das glaube ich dir. Für mich war unsere Begegnung bereits im Moment, als sie geschah, von einer anderen Bedeutung. Auch im Nachhinein, auch jetzt.
„Kennst du dich aus?“, hatte ich dich dann gefragt, um die Pein mit Worten zu füllen, zu bedecken, irgendwie verschwinden lassen.
Du zucktest mit den Achseln, gabst ein uneindeutiges Geräusch von dir. Für mich reichte das. Ich bot mein neues blaues, von meinem Götti auf den Geburtstag geschenktes Fahrrad an. Es mache beunruhigende Geräusche, vielleicht sei es in Echt kaputt.
„Wollen wir es auseinandernehmen?“, hast du darauf gefragt, den Beginn eines breiten Grinsens im Gesicht.
Die Reparaturkosten in der Werkstatt waren nicht tief. Sie waren sogar sehr hoch und ich musste dafür mein Taschengeld einbüssen. Auch der Zusammenschiss, den meine Eltern mir gaben, inklusive Fernsehverbot, war beträchtlich. Hausarrest gab es nicht, was gut war, denn alle Strafe liess sich gleich austarieren: Ich hatte einen Freund gefunden.
Von da an tauchten wir abwechselnd vor den Gärten der Einfamilienhäuschen, in denen wir wohnten, auf und verbrachten die heissen Tage zusammen. Du zeigtest mir Verstecke und geheime Strässchen und Gässlein und ich machte dich mit den blödstaussehenden Gartenzwergen bekannt.
3
Die Landschaft hier ist so flach, kaum will man aufstehen, sich aufstellen, wird man von ihr hinuntergedrückt und mit der Ebene verschmiert.
Einzig die Kirchtürme, die schön und brav ihr Dorf markieren, dürfen sich in den Himmel strecken.
Die Prioritäten, das Wichtige, sind klar gesetzt.
Wir haben viele schöne Wochen erlebt, in der friaulischen Provinz. Wir haben nachts Sternbilder gesehen, für die es in Basel zu hell ist. Du hast mich ausgelacht, als ich besserwisserisch in den Himmel zeigte und „Schau! Die kleine Waage!“ schrie. Fledermäuse flatterten beim Eindunkeln durch den Garten. Im Sommer liessen wir uns von Gewittern überraschen, sahen zu, wie sich Wolken dunkel färbten, näherzogen im Licht der Blitze grün wurden, schweflig.
Im Winter dagegen schauten wir in unsere Jacken eingemummt in die Ferne. Bergmassive, wie sich der Himmel rot färbte, das Sonnenlicht im Nebel diffundierte, als wäre sie ein Teebeutel in heissem Wasser, wie die Erde dampfte und wir rauchten still nebeneinander. Es war genug, es war sehr viel.
Oft haben wir uns über die Gegend hier unterhalten, über ihre Weite und Trostlosigkeit. Kurz vor der Geburt meiner Schwester hatten meine Eltern ein heruntergekommenes Bauernhaus mitten in einem kleinen Dorf gekauft, mit dem Fahrrad nur fünfzehn Minuten vom Städtchen entfernt, in dem meine Mutter aufgewachsen, unglücklich und viel zu lange geblieben und schliesslich daraus verschwunden war.
Meine Eltern bauten es um, das heisst, sie versuchten, den Zerfall aufzuhalten, liessen ein Bad herrichten, eine Heizung, warmes Wasser.
Einmal im Sommer malten mein Vater und ich Blumen, Sträucher und Bäume an die schmutzigen Hauswände, unter denen der Putz und Stein bröckelten. Der Garten war der Hitze wegen ausgedorrt, gelb und strohig, während wir auf den Wänden in den wildesten und saftigsten Grüntönen Büsche mit farbigen Blüten, fleischfressenden Pflanzen und Chatzeschwänz und Leuemüüli wachsen liessen.
Ich weiss noch, das erste Mal, als du in diesem Haus warst, den Garten und die Wände sahst. Du hast gelächelt, glaube ich, geflüstert: „Luise war hier“, wie die graffitiartigen Inschriften, die kopflose Teenager in den Katakomben oder auf Denkmälern berühmter Städte hinterlassen, Spuren, die von ihrem Besuch, ihrer Existenz zeugen sollten. „Luise war hier.“
Ich bin es jetzt noch.
Serge, ich schreibe diese Zeilen, sitze im orangen Sessel mit Blick auf den Garten, die Solardusche, unter der du an Sommerabenden Schlager sangst, schaue auf die gemalten Wandblumen. Die Trostlosigkeit dieser Gegend ist ansteckend.
Am Bahnhof im Städtchen nebenan, der bloss aus Schienen und einem Häuschen mit einem kaputten Snackautomaten besteht, da haben sie bei meiner Ankunft vor einigen Tagen die Fenster eines leerstehenden Hauses zugemauert. Im Städtchen selbst hat der Musikladen geschlossen. Über Jahrzehnte hinweg Zerfall beobachten setzt doch irgendwie zu, oder?
Unser erster Sommer in diesem Dorf, in dem nur Alte leben und wo sogar der Pfarrer nur zwei Mal monatlich Messe hält, haben wir mit unseren Freund:innen verbracht, kurz nachdem auch ich ans Gymnasium kam. Zu fünft waren wir unterwegs, gingen zuerst nach Rom, stritten uns dort über billigen Weisswein und die Pläne für’s Abendessen. Mit unserem ersten Interrailticket sind wir dann von Rom nach Verona über Venedig ins Friaul. Niemand holte uns vom Bahnhof ab, meine Verwandten war jeder Besuch aus der Schweiz eine Last, die Grossmutter nicht zu besuchen, wäre aber trotzdem Hochverrat gewesen.
Also legten wir zu Fuss die sechs Kilometer zwischen Provinzstädtchen und Provinzdorf zurück. Mücken saugten sich auf dem Weg zwischen den Feldern an unserem Blut satt, hockten sich auf nackte Waden, Oberschenkel, Fussgelenke. Die Felder wurden durch lange Kanäle, die die Strasse säumen, bewässert, in ihnen legten die Mücken ihre Eier, aus ihnen kommen sie, sobald die Hitze etwas nachlässt, hervor.
Vor triefendem Schweiss, Hitze und Dreck von der langen Zugreise blieben die kleinen Insekten auf unserer Haut vorerst unbemerkt kleben. Erst einige Stunden danach, als alles zu jucken anfing und wir uns blutig kratzten, wurden wir uns ihres Besuchs bewusst.
In dieser ersten Nacht konntest du nicht schlafen. Ich auch nicht. Zu nervös, aufgeregt und beschämt war ich, dir und den anderen diesen Ort zu zeigen, die zweite Heimat, der ich nicht angehörte, ich hatte Angst, mich blosszustellen. Du schlichst also am Zimmer vorbei, das ich mit Andrina teilte, kitzeltest mich wach, legtest deine Hand über meinen Mund.
„Komm.“
Und ich folgte dir.
Die Treppe hinunter, hinaus in den Garten, wo es nicht weniger heiss war als drinnen, doch wo ein schwacher Nachtwind den Schweiss an meinem Hals trocknete. Bevor ich etwas sagen konnte, hattest du meine Hand genommen, deinen ausgestreckten Zeigefinger vor deine Lippen gelegt, ssschhh…, und mich mitgezogen.
Durch den Garten, aus dem Tor auf die heisse, dunkle Strasse.
Wir rannten.
An den ruinengleichen Häusern vorbei, an den Blumengestecken vor den offenen Fenstern, die Strasse hinunter, min in der Strasse hinunter, wir hörten nicht als unsere Schritte, in den Flipflops schmatzte es, wenn wir die Güsse vom Asphalt hoben… Wir rannten vorbei an der Kapelle, die immer geschlossen ist, am Café vorbei, beim Friedhof, auf das Feld hinaus.
Erst als wir nur noch in der Ferne die Strassenlaternen des kleinen Dorfes sehen konnten, machten wir Halt, hielten unsere Seiten, hielten unsere Hände, hielten uns in den Armen.
Als sich unser Atem beruhig hatte, mi das Herz nicht mehr in den Ohren pochte, fingst du an zu erzählen.
Aus der Kaffeetasse steigt Dampf empor
Ähnlich wie draussen auf der Strasse
Aus der Zeitung blicken ausdrucklose Gesichter hervor
und ich bin wie sie gefangen,
ein auswegloser Hausinsasse.
Draussen Fahren erste Autos,
vereinzelte Gestalten,
ein bewegtes Bild im Rahmen meiner Fenster.
Ich träume hier vom Unsichtbaren und dem Zeitanhalten
und um mich tanzen
Zigarettenrauchgespenster.